Pragmatismus gefragt – Herausforderungen und Chancen für die klinische Forschung im Zeitalter der frühen Nutzenbewertung in Deutschland

Nutzenbewertung

Bereits zum dritten Mal erschien im September dieses Jahres der Innovationsreport der Techniker Krankenkasse (TK, Innovationsreport 1).

Wie in den vorausgegangenen Ausgaben analysieren darin Experten um den Bremer Professor Gerd Glaeske die Verordnungszahlen neuer Medikamenten an TK-Versicherte und bescheinigen den 20 Medikamenten, die im Jahr 2012 zugelassen wurden und die frühe Nutzenbewertung durchlaufen haben, größtenteils ein vernichtend geringes Innovationspotenzial.

Zur Illustration dieser ernüchternden Ergebnisse setzten die Autoren eine Ampelsystem zur Bewertung von Zusatznutzen, Kosten und verfügbare Alternativen ein – die Ampel steht diesmal fast ausschließlich auf Rot.

Harsche Pharma-Kritik

Laut dem Presse-Statement von Prof. Glaeske anlässlich des Erscheinens des Innovationsreports lautet das durchaus löbliche Ziel des Projekts ,

„die Vermittlung der evidenzbasierten Bewertung an die verordnenden Ärztinnen und Ärzte„ zu verstärken, „damit auch die Effizient der Versorgung gesteigert wird“.

Die Autoren bemängeln jedoch, dass 12 der 19 betroffenen Wirkstoffe Eingang in Leitlinien erhalten haben, obwohl „keineswegs alle durch einen Zusatznutzen oder durch therapeutische Vorteile überzeugen“.

Dies mag durchaus verwundern, da besagte Leitlinien ohne Frage evidenzbasiert erstellt werden: die medizinische Bewertung der Evidenz ist im Rahmen einer jeden Nutzenbewertung Gegenstand zahlreicher energischer Diskussionen.

Es bleibt jedoch fraglich, ob die stringenten Regeln der Evidenzbewertung im Rahmen der Nutzenbewertung mit der Realität am Krankenbett etwas zu tun haben.

Gleiches gilt jedoch auch für die Ampel im Innovationsreport, bei der dem Anwender der Weg zum Erkenntnisgewinn (z.B. Strategien der Literaturrecherchen) nicht transparent dargestellt wird und sich somit Rückschlüsse auf die Klinikpraxis als schwer nachvollziehbar gestalten.

Fakt ist, – und hier werden alle Experten zustimmen – dass die randomisierte kontrollierte Studie als Goldstandard der Evidenzbasierten Medizin nicht immer allen Aspekten ärztlichen Tuns gerecht wird und daher Urteile über Praxisleitlinien mit Bedacht gefällt werden sollten.

Die Antwort der Pharma-Verbände

Die Antwort der Industrievertreter auf den Report der TK lässt nicht lange auf sich warten – der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) argumentiert, dass aufgrund von Arzneimittel-Neuordnungs-Gesetz (AMNOG) -bedingten Marktrückzügen etliche neue Innovationen ihr Potenzial im Versorgungsalltag nicht unter Beweis stellen können (Antwort des BPI2).

Der BPI-Vorsitzende Dr. Martin Zentgraf stellt dem AMNOG daher ein ebenso vernichtendes Urteil aus (Fünf Jahre AMNOG – Beschluss des Bundestages3; Fünf Jahre AMNOG – Diese vernichtende Bilanz zieht die Industrie4). Als Hauptargument wird hier der Rückzug von Wirkstoffen vom deutschen Markt genannt, der sicherlich bei etlichen Indikationen zu Versorgungslücken führen könnte.

Auch dieses Argument ist nicht neu, und wiederum wird eine imposante Zahl in den Mittelpunkt der Aussage gerückt: 37 Medikamente hätten auf den deutschen Markt verzichtet, wie ein Gutachten der Uni Bayreuth im Auftrag des BPI bescheinigt.

Was haben wir gelernt?

In einer Hinsicht sind sich Interessenvertreter der Industrie und der Kostenträger jedoch einig – das Arzneimittel-Neuordnungs-Gesetz habe sein Ziel verfehlt.

Während die Einen die Minderung der Bedeutung des deutschen Marktes befürchten, kritisieren die Anderen, dass die ausgehandelten Preise nicht mit dem vom G-BA bescheinigten Zusatznutzen korrelieren und somit das Einsparpotenzial nicht voll ausgeschöpft wird.

Beides lässt sich nicht abstreiten – es gibt durchaus viel Verbesserungsbedarf! Dies ist wohl auch der Grund für das gebetsmühlenartige Auftreten eines Satzes in der Nachrichtenwelt zur Nutzenbewertung: „Das AMNOG ist ein lernendes System“.

Und in der Tat – seit dem Jahr 2012, in dem die im Innovationsreport von 2015 kritisierten Medikamente ihre Nutzenbewertung durchliefen, hat sich Einiges getan. Damals, 2012, war das AMNOG gerade mal 1 Jahr alt und viele Studien der pharmazeutischen Unternehmer waren zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung bereits abgeschlossen und konnten Konzepte wie eine „zweckmäßige Vergleichstherapie“ und „patientenrelevante Endpunkte (nach G-BA Verständnis)“ nicht mehr im Studiendesign berücksichtigen. In der Regel liegen hier wohl bei vielen Wirkstoffen auch die Hauptgründe für den Mangel eines Zusatznutzens begraben.

In der Zwischenzeit haben alle Beteiligten viel gelernt und das Gesicht der klinischen Forschung in Deutschland hat sich verändert: was anfänglich als Bedrohung und Herausforderung angesehen wurde kann auch als Chance für eine Neupositionierung im Markt gesehen werden, sofern die Anforderungen des Gesetzgebers pragmatisch und innovativ umgesetzt werden.

Augen auf beim Studiendesign!

Um Studien „AMNOG-tauglich“ zu designen, gilt es, bereits bei der Auswahl der Studienendpunkte, die im Rahmen der Nutzenbewertung punkten sollen, bedacht vorzugehen und viele verschiedene Aspekte zu bedenken. Wir haben hier unsere Erfahrungen zu diesem Thema aus mehreren erfolgreichen Projekten bewusst nüchtern und frei von Polemik zusammengetragen (AMNOG: Was bei der Endpunktwahl für Zulassungsstudien zu berücksichtigen ist. Patchev et al. Pharmazeutische Medizin, 3/2015).

Wir sind überzeugt, nur durch intelligentes Studiendesign kann qualitativ hochwertige Evidenz generiert werden, mit der man im Rahmen der Nutzenbewertung durchaus gewinnen kann. Da diese Erkenntnis immer offensichtlicher wird und sich auch in die Konzeption von Studiendesigns niederschlägt, darf man gespannt sein, ob die Bremer Ampel in den kommenden Jahren auch öfters mal auf Grün stehen wird.

Picture: @pico /Fotolia.com

 

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